Schamanismus – eine Einführung und eine "apologetische Schrift"

Bei dem Wort „Schamanismus“ denken die meisten Menschen an Indianer (korrekte Bezeichnung: Native Americans) oder an bunt gekleidete Geisterbeschwörer, die auf eine große Rahmentrommel schlagen und behaupten, dass sie mit ihrer Kunst Menschen und Tieren helfen oder sie gar von Krankheiten heilen können. In der westlichen Gesellschaft werden solche Personen im besten Fall als „Edle Wilde“, im schlimmsten Fall als rückständige und abergläubische Individuen angesehen, die es eben nicht besser wissen können, weil sie die „Segnungen“ der Aufklärung und der christlichen Missionierung noch nicht empfangen haben. Zeitweise wurden sie auch als Psychotiker angesehen, deren „Wahnvorstellungen“ von der Dorfgemeinde geglaubt und als Weisungen der Götter angesehen werden – quasi eine kollektive Psychose. Der Schamanismus wurde zweitweise als „arktische Hysterie“ bezeichnet. Man glaubte, dass die langen Winternächte hysterische und psychotische Zustände auslösten.

Aber nun in „medias res“. Schauen wir erst mal das Wort „Schamane“ an. Die Wikipedia verkündet folgendes: „Die Bezeichnung Schamanismus leitet sich den meisten Autoren zufolge von dem aus Sibirien entlehnten Wort Schamane ab, mit dem die tungusischen Völker ihre Geisterbeschwörer bezeichnen. Das Wort entstammt vermutlich dem evenkischen (d. h. tungusischem) šaman, dessen weitere Etymologie umstritten ist. Möglicherweise liegt das manjurische Verb sambi, „wissen, kennen, durchschauen“, zugrunde. Die ältere Bezeichnung Schamanentum bezieht sich nicht auf die wissenschaftlichen Konzepte, sondern nur auf die Existenz von Geisterbeschwörern in verschiedenen Kulturen, ohne dabei bestimmte Zusammenhänge herzustellen.“

Das heißt: Ethnologen und Forscher haben „Geisterbeschwörer“ der tungusischen Völker beobachtet und nannten ähnlich arbeitende Ekstatiker anderer Völker einfach auch „Schamanen“, obwohl jede Ethnie eine eigene Bezeichnung für solche Personen hat. In diesem Sinne gibt es z.B. bei den nordamerikanischen Natives gar keine „klassischen“ Schamanen. Aber den Ethnologen fiel auf, dass die Ekstatiker verschiedener Ethnien mit fast gleichen Techniken arbeiteten. Und diese wären: Einleitung einer Trance beim Schamanen (=Ekstase), in diesem Zustand die Ausführung einer Seelenreise in die Geisterwelt, dort Kontakt mit Geistwesen, die Freunde oder Verbündete des Schamanen sind, Befragung dieser Geister, um einem Klienten zu helfen oder um Heilung zu erbitten, dann Rückkehr der Seele des Schamanen wieder in die diesseitige Welt und zu guter Letzt die Ausführung der Ratschläge der Geister (zum Beispiel Heilrituale). Dieses Grundschema kann man bei sehr vielen Naturvölkern finden. Ein „Schamane“ der Jivaro -Indianer aus Südamerika könnte zum Beispiel eine Sitzung, die ein Tuvinier aus Sibirien durchführt, in seinen Grundzügen sofort verstehen, denn beide gehen in die Geisterwelt und verwenden teilweise sogar dieselben Heiltechniken, nur die technische Ausführung unterscheidet sich sehr. Der Tuvinier versetzt sich mit Trommelklang in Trance, während der Jivaro zu diesem Zweck eine Meisterpflanze (halluzinogene Pflanze) einnimmt.

Erst seit sich die „teilnehmenden Beobachtung“ in der Völkerkunde etablierte, änderte sich die Geringschätzung Schamanen als „abergläubische Irre“. „Teilnehmende Beobachtung“ heißt, dass der Anthropologe ein Volk oder einen Stamm nicht mehr „von außen“ her, sondern „von innen“ her beobachtet. Er gliedert sich in die Gemeinschaft des Stammes ein und nimmt aktiv an Ritualen und anderen sozialen Aktivitäten teil. Manche Anthropologen begannen sogar, sich zum Schamanen ausbilden zu lassen. Etwa zur Mitte des letzten Jahrhunderts veröffentlichte außerdem Mircea Eliade das Standardwerk „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“, in welchem das weiter oben erwähnte Grundmerkmal des Schamanismus herausgearbeitet wurde: die schamanische Seelenreise. Übrigens wird in diesem Buch -wenn auch noch sehr zaghaft- auf die „schamanischen Elemente“ in den nordischen Sagen hingewiesen.

In der der Mitte der 60er Jahren des letzten Jahrhunderts praktizierte ein Mann namens Michael Harner ebenfalls diese „teilnehmende Beobachtung“ in Südamerika. Er war einer der ersten Forscher, der das halluzinogene Gebräu „Ayahuasca“, dass die Schamanen des Shipibo-Stammes trinken, um „reisen“ zu können, und war nach diesem Erlebnis so beeindruckt, dass er beschloss, den Schamanismus weiter zu erforschen. Er entwickelte die Idee, die schamanischen Techniken wie Seelenreisen und Heilrituale auch den westlichen, modernen Menschen zugänglich zu machen. Daraus entstand die „Foundation for Shamanic Studies“ (FSS), welche diese schamanischen „Kerntechniken“ in Seminaren anbietet (bezeichnenderweise wurde das Ganze dann auch „Core Shamanism“, also „Kernschamanismus“ genannt). Die FSS hat auch dazu beigetragen, dass der Schamanismus bei Naturvölkern wieder vermehrt praktiziert wurde und wird. Als Beispiel ist Russland zu erwähnen. Zur Zeit der UDSSR wurden Schamanen verfolgt und getötet, und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kamen auch Lehrer der FSS in das heutige Russland und boten Seminare über den Kernschamanismus an (allerdings gab es auch noch ein paar alte Schamanen, die im Verborgenem weiter praktiziert haben).

Dank der FSS wuchs ab Mitte der 90er Jahre eine „Kernschamanenszene“ in den westlichen Industrieländern heran, aber auch in der Esoterikszene wurden die Core-shamanism-Seminare immer beliebter. Diese Entwicklung sehe ich ambivalent. Einerseits hat die FSS dafür gesorgt, dass in unserer westlichen „Zivilisation“ Menschen mit schamanischer Begabung „erweckt“ werden und ihrem Ruf (den sie oft vorher nicht einordnen konnten) folgen können, aber andererseits wurde der Kernschamanismus über die Jahrzehnte, besonders in der Esoterikszene, mehr und mehr „verflacht“. Grob gesagt ist das, was in der Szene als „Schamanismus“ bezeichnet wird, in den allermeisten Fällen eine Art Psychotherapie, aufgepeppt mit „Ritualen“, die in der Regel einfach nur der Katharsis der betreffenden Teilnehmer dienen. Echter Geisterkontakt (wie es ursprünglich vom Harner gelehrt worden ist) ist sehr selten vorhanden. In diesem Sinne ist der echte Schamanismus (also die Geisterarbeit) ein ziemlich schräg angesehenes Stiefkind, selbst bei den Esoterikern. Aber, wie schon geschrieben: es wurden in der hiesigen Kultur wieder Menschen mit einer schamanischen Begabung auf dem Weg gebracht worden, und diese arbeiten seit etwa 20 – 30 Jahren für die Mitmenschen und die Geister – eben unter erschwerten Bedingungen, weil sie überhaupt nicht anerkannt und ernstgenommen werden.

Aber: was bringt der Schamanismus in der Westlichen Zivilisation? Am Schwersten ist in unserer aufgeklärten Gesellschaft die Annahme einer Geisterwelt. Praktisch alle Kulturen, die Schamanismus praktizieren, haben den Animismus als grundlegende Weltanschauung. Der Animismus besagt folgendes: Jede physische Erscheinung in der Natur ist von einem Geistwesen beseelt. Also hat alles um uns ein Bewusstsein und es existieren unsichtbare Existenzen wie Naturgeister, Totengeister, Ahnengeister und so weiter. Bei Tieren kann man zumindest die Beseeltheit noch nachvollziehen, bei Pflanzen wird es schon schwerer und bei Steinen oder Bergen steigen die meisten komplett aus, wenn man von Geistwesen wie Steintrolle oder Kristallwesen redet. Man kann den Animismus noch weiter auf die Spitze treiben, indem man davon ausgeht, dass selbst erschaffene Dinge beseelt sind oder genauer gesagt mit der Zeit beseelt werden. Bei einem Kraftgegenstand wie zum Beispiel „Götzenbildern“ oder der schamanischen Trommel kann man das noch einigermaßen nachvollziehen, aber die Annahme, dass zum Beispiel ein Computer oder ein Auto mit der Zeit eine Seele entwickelt, ist schon sehr gewöhnungsbedürftig (und doch gibt es Leute, die ihr Auto wie ein Familienmitglied behandeln). Der Schamanismus ist in diesem Sinne eine Technik, mit der ein Kontakt zu den Geistern hergestellt wird, er ist eine sehr effektive Art des „praktizierten Animismus“.

Die Naturwissenschaft und die Aufklärung schütteten das Kind mit dem Bade aus. Sie haben einerseits die übergroße Macht der Religionen (besser gesagt: der Kleriker) gebrochen, aber auch die Beseelung der Welt negiert, weil Seelen nicht naturwissenschaftlich beweisbar sind. Zusammen mit der beginnenden Industrialisierung hatte das zur Folge, dass sowohl der Mensch als auch die Erde als „Maschinen“ angesehen worden. Es gibt tatsächlich Traktate aus der Zeit der beginnenden Aufklärung, in denen Tieren eine Seele abgesprochen wird. Die Ausläufer dieser Denke habe ich selber noch Anfang der 1990er Jahre im Biologieunterricht erlebt: da wurde gelehrt, dass Tiere auf bestimmte Reize ein „angeborenes Programm“ als Reaktion abspulen, also quasi wie ein Computer, der zum Beispiel einen Basic-Befehl ausführt, indem er ein bestimmtes und starr festgelegtes Programm abspult.

Witzigerweise gibt es zwischen Schamanismus und Naturwissenschaft recht frappierende Überschneidungen in der Arbeitsweise. Beide fußen auf empirische Erfahrungen. Schamanen sind in dieser Hinsicht sehr „wissenschaftlich“, genauer gesagt: sehr empirisch ausgerichtet. Funktioniert das Ritual oder nicht? Bewahrheitet sich das, was die Geister mir sagen? Wenn es nicht funktioniert, woran liegt das? Und was kann man ändern, damit es funktioniert? Ich habe das selber so erlebt und selbst die ethnologische Literatur bestätigt das: Bei manchen Stämmen wurde der Schamane sogar verjagt oder getötet, wenn seine Sitzungen und Beratungen nichts brachten. Also ganz einfach: wenn man es richtig macht, rumst die schamanische Technik. Ich war selber vor der „Schamanerei“ ein ziemlich naturwissenschaftlich eingestellter Mensch (bin ich auch heute noch), aber als mir klar wurde, dass am Schamanismus was dran ist, blieb ich dabei. Es ist ein Irrweg, die Naturwissenschaft und Spiritualität gegeneinander auszuspielen. Genau dieses Gebaren brachte uns zu der Misere, in der wir Menschen jetzt stecken.

Wenn man die Erde und Lebewesen als Maschinen ansieht, behandelt man sie auch so. Man kann sie reparieren, austauschen oder wegwerfen, wenn nichts mehr zu machen ist. Und man kann „Dinge“ mit maximalem Gewinn ausnutzen, weil man das Gefühl hat, dass es keine negativen Konsequenzen für uns bringen wird. „Dinge“ haben ja kein Gefühl. Und genau aus diesem Grund ist der Schamanismus in der Postmoderne wieder erwacht, denn auf der schamanischen Reise sprechen plötzlich diese „Dinge“ mit einem, und es ist KEINE Psychose….

Ich glaube mittlerweile, dass gerade der Schamanismus und die animistische Weltansicht vielleicht *die* Medizin wären, die uns in der heutigen Zeit bei den großen Problemen, in denen wir Menschen stecken, helfen könnten. Wenn viel mehr Menschen, vielleicht sogar hochrangige Politiker und Würdenträger, unseren Planeten als „Mutter Gaia“ ansehen und das sogar persönlich erfahren würden, dann wäre einiges vielleicht anders. Ich glaube nicht mal, dass wir wieder in Tipis und Jurten leben müssen, sondern „nur“ den respektvollen und nachhaltigen Umgang mit der Erde, ihren Ressourcen und Lebewesen mit dem Bewusstsein, dass alles beseelt und mit Gefühlen ausgestattet ist, praktizieren. Ich denke, dass heute die Zeit ist, dieses archaische Weltbild mit der Moderne zu verbinden – und das funktioniert sehr wohl. Ich praktiziere es schon 20 Jahre.


Roadys Schamanencomic - viele Sachen kann man besser mit Bildern erklären....