Schamanische Theorie und Praxis
Der schon erwähnte Michael Harner entwickelte das „3 – Welten“ Modell, das er in seinen Seminaren lehrte. Dieses ist ein Destillat der verschiedenen schamanischen Kosmologien, die er in seinen Forschungen kennenlernte, weitestgehend vom unnötigen kulturellen Ballast befreit. Es ist ein Knochen, auf welchem der praktizierende schamanisch Arbeitende/Schamane zusammen mit seinen Geistern Sehnen und Knochen draufpacken kann. Aus diesem Grund nannte Harner seine Methode „Kernschamanismus“ und knüpft ganz bewusst nicht an die Traditionen irgendeines bestimmten Volkes. Nun, so ganz stimmt das nicht: das Konzept des Krafttieres in der Unteren Welt (wird später ausführlicher beleuchtet) wird so in einigen Indianerstämmen gelehrt und die Schamanentrommel stammt aus Sibirien. Trotzdem empfehle ich für den schamanischen Anfänger auch heute noch diese „Harner – Methode“ – und nichts anderes. Nach meinen Beobachtungen in der „Szene“ kann man meiner Meinung nach 90 Prozent schamanischen Ausbildungsangebote in die Tonne treten. Michael hat mit seinem Kernschamanismus einen Geniestreich hingelegt, der meiner Meinung von den Geistern geplant war. Wer wirklich an schamanischen Praktiken interessiert ist, sollte gleich zur von Harner gegründeten „Foundation for Shamanic Studies“ (FSS) gehen und dort den sogenannten „Basiskurs“ belegen, es spart viel Ärger und Verwirrung. Viele meiner Kollegen -und auch ich- lehren in ihren Kursen diese Harner-Methode, dazu muss man nicht Mitglied der Foundation sein.
Harner lehrte, dass unter unserer physischen Welt die sogenannte „Untere Welt“ liegt. Und über unserer schönen Erde liegt die „Obere Welt“. Aber auch unsere Menschenwelt wird von einer Geisterwelt durchzogen, welcher Harner „Mittlere Welt“ nannte, die zwischen der Unteren und Oberen Welt liegt. Die Untere Welt ist die Heimat der Krafttiere. Dort findet der angehende schamanisch Arbeitende seinen persönlichen Tiergeist, der ihn auf seiner spirituellen Reise begleiten wird. Das Krafttier ist, neben dem Lehrer in der Oberen Welt, im zeitgenössischen Schamanismus, eine der wichtigsten Verbündeten, es beschützt seinen Menschenfreund und hilft ihm, die Geisterwelten zu erforschen. Vergleiche mit dem Schutzengel sind durchaus angebracht. Auch bei Heilritualen ist das Krafttier immer dabei, es muss nicht immer direkt mitarbeiten, ist aber meiner Erfahrung nach immer als Schutzinstanz im Hintergrund. Außerdem stärkt das Krafttier die Lebenskraft seines Menschen/Schamanen. Jeder schamanisch Praktizierende wird bestätigen, dass die regelmäßige Arbeit mit dem Krafttier gerade in Krisenzeiten einen positiven Schub bringt.
Bei diversen südamerikanischen Stammeskulturen herrscht die Auffassung, dass man im Laufe des Lebens verschiedene Krafttiere haben kann, was auch Harner übernommen hat. Es kann sein, dass ein Krafttier nach der Beendigung einer Lebensphase verschwindet und ein neues sich vorstellt, um „seinen“ Menschen durch den neuen Lebensabschnitt begleitet. Manchmal gibt es hierbei einen Zeitabschnitt, wo der Mensch gerade kein Krafttier hat, was von der Harner – Schule als kritisch angesehen wird. Ich kann in meiner eigenen Klientenarbeit bestätigen, dass Menschen, wenn sie „von allen guten Geistern verlassen“ sind (jetzt ist auch klar, woher dieser Spruch kommt…), anfälliger für Pechsträhnen, Unglück oder Krankheiten sind. Der Schamane kann dann in die Untere Welt reisen und ein neues Krafttier für den Klienten holen. Es gibt auch das „Lebenslange Krafttier“, was ich einfach „Totem“ nenne. Witzigerweise kennen in der zeitgenössischen Schamanenszene nur sehr wenige ihr Totem. Die Verbindung zum Totem ist sehr tief und erstreckt sich möglicherweise über die irdische Inkarnation hinaus. Allerdings ist es nicht unbedingt nötig, sein Totem zu kennen, ein guter Kontakt zu seinen Krafttieren reicht vollauf.
Auf Reisen in die Untere Welt nimmt man meistens unberührte Naturlandschaften wie Wälder, Wüsten, Berge und Höhlen wahr. Das Wort „unberührt“ ist hier entscheidend, man findet -zumindest ist es bei mir so- überhaupt keine vom Menschen beeinflusste Natur. Auch die Tiergeister sind ursprünglich, es sind immer Wildtierrassen, die mir begegnen. Es gibt auch Bereiche in der Unteren Welt, wo die Geister der Verstorbenen wohnen. Das wird zum Beispiel in diversen griechischen Sagen (ein klassisches Motiv ist der Styx und der Fährmann, so etwas kann tatsächlich einem auf einer schamanischen Reise passieren) oder auch in der germanischen Mythologie (Hel) beschrieben. Solche Bereiche bitte nie ohne Krafttier bereisen!
Wenn man die „mittlere Welt“ schamanisch bereist, nimmt man die feinstofflichen Aspekte unserer physischen Welt. Man kann zum Beispiel über eine Landschaft, die man auskundschaften will, fliegen (auf schamanischen Reisen ist so einiges möglich…) und sich von den Geistern beispielweise Ley-Lines zeigen lassen. Man kann auch auskundschaften, welche Naturgeister beispielsweise in einem Wald wohnen oder auch Geister von Verstorbenen („erdgebundene Geister“) aufspüren. In der zeitgenössischen Schamanenszene ist die Reise in die Mittlere Welt ein Stiefkind, wird selten praktiziert und trainiert. Für die die schamanische Arbeit mit Naturgeistern sollte man deswegen die Mittlere Welt ansteuern.
Die Obere Welt ist der Ort, wo Lehrende Geistwesen (die Esoteriker würden „Aufgestiegene Meister“ sagen) wohnen und wirken. Hier kann man zum Beispiel Jesus Christus oder St. Germain treffen. Diese Lehrergeister können einen helfen, Situationen von einer höheren Warte aus zu sehen und können sehr weise Ratschläge und Hinweise geben, damit man ein Problem lösen oder generell ein besseres Leben zu führen. Die Eindrücke der Oberen Welt sind oft sehr außerweltlich, teilweise sogar abstrakt und bizarr. Erforschen Sie mal die biblischen Quellen, wo Engel beschrieben werden – genau solche Wesen können einem in der Oberen Welt begegnen. Oder der Lehrer zeigt sich Energienebel, Wirbel oder Orb. Landschaften werden in der Oberen Welt sehr selten wahrgenommen. Typischerweise schwebt man im Weltall oder wandelt über eine Wolkendecke. Alles wirkt etwas ätherisch.
Wie „reist“ der zeitgenössische Schamane/schamanisch Arbeitende? Dafür muss er seinen Bewusstseinszustand verändern, wenn er ihn erreicht hat, visualisiert er seinen persönlichen Zugang in eine der Welten – das kann beispielsweise ein Höhleneingang in die Untere Welt oder ein Baum in die Obere Welt sein. Der Schamane stellt sich vor, wie der in die Höhle reingeht oder wie er den Baum hochklettert, und dank des veränderten Bewusstseinszustands verselbständigt sich diese Visualisierung. Man steht beispielsweise plötzlich in einem Tunnel und wundert sich, wie man sich so etwas vorstellen kann und steht plötzlich auf einer schönen Wiese. Die Seelenreise entwickelt oft eine überraschende Eigendynamik.
Um diese Veränderung des Bewusstseinszustandes wird heute in der Szene ganz viel Bohei gemacht, weil viele oft unsägliche innere Bilder zu diesem Thema haben. Da denken viele oft in erster Linie an Drogen oder exotische Trancezustände mit epileptischen Zuckungen. Zwar gibt es das in vielen schamanischen Kulturen, aber Michael Harner fand heraus, dass monotones Getrommel vollends bei den meisten Menschen ausreichte, um sie auf die Reise zu schicken. Harner entdeckte, dass ein konstanter Trommelschlag von 4,5 Schlägen pro Sekunde die Gehirnstromaktivitäten veränderte. Es gibt Theta-, Alpha- und Beta- „Frequenzen“. Hier eine kurze Beschreibung:
DELTA (4 Hertz und tiefer): Diese Gehirnwellen sind verbunden mit tiefem Schlaf oder Bewusstlosigkeit.
THETA (4 Hertz bis 8 Hertz): Diese Wellen entstehen im Bereich zwischen Wachsein und Schlafen, ein Zustand der Tiefenentspannung. Theta-Wellen sind auch verbunden mit Träumen und traumähnlichen inneren Bildern. Für die meisten Menschen ohne langjährige Meditationserfahrung ist es schwer, in Thetaphasen das Wachbewusstsein zu bewahren und sie schlafen ein. Dieser Schlaf ist jedoch davon gekennzeichnet, dass sich die Menschen nach kurzer Zeit sehr erholt und zufrieden genährt fühlen.
ALPHA (8 Hertz bis 13 Hertz): ist verbunden mit Zuständen von Entspannung und allgemeinem Wohlsein. Alphawellen entstehen im allgemeinen in den Gehirnregionen des Hinterkopfs, wenn die Augen geschlossen sind. Das Bewusstsein ist wach, kann jedoch unfokussiert oder auf die Innenschau gerichtet sein.
BETHA (13 bis 38 Hertz): ist verbunden mit der aktiven Aufmerksamkeit und einem Fokussieren auf die Umgebung, wie dies bei Aktivitäten im Alltag der Fall ist. Betawellen entstehen auch in Zuständen von Anspannung, Ängstlichkeit und Furcht.
GAMMA (38 bis 70 Herz): Wird selten gemessen – sehr hoher Bewusstseinszustand
Beim Zuhören schamanischer Trommeln nimmt der Thetabereich drastisch zu, während beim Abspielen rhythmisch freier Trommelmusik der Betabereich zunahm. In den Core-schamanischen Seminaren liegen die Teilnehmer mit geschlossenen Augen auf ihren Yogamatten, während einige Trommel den erwähnten Trommelrhythmus schlagen – meistens zwischen 15 bis 20 Minuten. Am Anfang wird ein Eingang in die Untere Welt oder eine Aufstiegsmöglichkeit in die Obere Welt visualisiert, zum Beispiel ein Loch zwischen den Wurzeln eines Baumes oder einen Ast, zu dem man hochklettert. Poetische Naturen stellen sich auch einen Regenbogen (Bifröst!) vor, andere sind ganz pragmatisch und visualisieren einen Aufzug mit drei Knöpfen – einer führt in die Untere Welt, einer in die Mittler Welt und der dritte in die Obere Welt. Erfahrungsgemäß fängt beim Driften in den Thetabereich die Visualisierung an, ein bizarres Eigenleben zu bekommen – man sieht Dinge, an die man „niemals nicht“ gedacht hat. Das ist ein sicheres Zeichen, dass man im „schamanischen Bewusstseinszustand“ ist.
Übrigens: die Beschreibung, dass man im Theta-Zustand gerne einschläft, kann ich aus eigener Beobachtung bestätigen. Man duselt gerne weg, wenn man mehr oder weniger entspannt auf der Matte liegt und dem monotonen Getrommel lauscht. Ich selber gewöhnte mir am Anfang an, im Sitzen zu reisen, später trommelte ich einfach selber, so wie es viele sibirische und nepalesische Schamanen machen. Der Vorteil ist hier, dass man gleichzeitig tanzen oder „grooven“ kann, was den Trancezustand verstärken kann. Wenn man Filme von sibirischen Schamanen anschaut, sieht man oft, wie die sich richtiggehend in die Trance reinsteigern.
Ich kürze es hier ganz bewusst ab, weil ich persönlich es sinnvoll finde, das genaue Procedere der schamanischen Reise in einem Seminar, und zwar vor Ort, zu lernen. Diverse YouTube-Videos und Online-Kurse sind aus meiner Sicht kontraproduktiv, weil sie nie so tief gehen wie ein Seminar (wobei ich unter „Seminar“ etwas anderes als diese Riesenveranstaltungen mit 20 Teilnehmern und mehr. Außerdem lösen die Erfahrungen bei manchen Leuten durchaus heftige emotionale und körperliche Reaktionen hervor (was verständlich ist – die erste schamanische Reise kann das das bisherige Weltbild zum Einstürzen bringen). Außerdem gibt es bei manchen Leuten „Startschwierigkeiten“, die einfach vor Ort am besten behoben werden können. Und zu guter Letzt ist der schamanische Basiskurs etwas Heiliges – man trifft bewusst seine verbündeten Geister und fängt an mit ihnen zu arbeiten. Für einen Christen wäre das in etwa so, als ob er seinem Hl. Schutzengel oder vielleicht Jesus Christus begegnet – der würde aus dem Lobpreisen nicht mehr herauskommen! Deswegen sollte man den Basiskurs nicht so nebenbei mitnehmen (wie es leider von vielen „Seminarhoppern“ gemacht wird).
Es gibt noch weitere tranceinduzierende Bewusstseinstechniken wie zum Beispiel Tanz (Der Krafttiertanz, der in der FSS gelehrt wird, fällt hierzu ein) oder auch generell monotone Bewegungen wie z.B. Schaukeln, Wiegen oder Zittern. Auch Singen ist eine starke Trancetechnik (das Kraftlied des Schamanen). Die Kommunion (!) von halluzinogenen Gewächsten und Substanzen ist vor allem in Mittel - und Südamerika verbreitet, klammere ich hier aber aus diversen Gründen ganz bewusst aus. Das Trommeln hat sich eben als wirksamste, zuverlässigste und ungefährlichste Technik herausgestellt.