Wechselbälger

Wechselbalgmärchen sind die bizarrsten und unverständlichsten Erzählungen im Zusammenhang mit Naturgeistern. In dieser Art von Feenmärchen wird erzählt, dass ein Menschenbaby von den Elfen/Trollen/Zwergen gestohlen und durch ein Baby von ihrer Art ersetzt wird. Irgendwann wird der Tausch bemerkt, sei es, dass das vermeintliche Menschenkind beginnt, anders auszusehen oder sich merkwürdig zu benehmen oder sich sonstweie ungewöhnlich entwickelt. Das Baby wird meistens recht unsympathisch (halt ein echtes AK…) und dämonisch beschrieben. Oft ist es unförmig, ziemlich dumm, frisst für 3 und denkt überhaupt nicht daran, zu wachsen oder das laufen zu lernen. In manchen Märchen wird diesem Wesen wenigstens eine musikalische Begabung zugestanden, so mancher Wechselbalg konnte hervorragend Dudelsack oder Flöte spielen, soff aber literweise Whiskey (Drugs & Rock´n Roll...). In vielen Märchen rät schließlich ein „Weiser“ oder auch der Pfarrer, bestimmte Rituale zu vollziehen, um die Naturgeister zu zwingen, den Tausch rückgängig zu machen. Die Aktionen sind durchwegs grausam oder bizarr. So wird zum Beispiel empfohlen, das Elfenkind auf eine Schaufel zu setzen und so tun, als wollte man es ins Herdfeuer werfen (es gibt tatsächlich noch im 20. Jahrhundert Fälle, in denen genau das gemacht wurde. Auf Irland wurde beispielsweise eine junge Dame verbrannt, weil sie als „Wechselbalg“ galt). Die andere Variante arbeitet mit dem Überraschungseffekt. Zum Beispiel wird empfohlen, vor den Augen des Wechselbalges Bier in einer Eierschale zu brauen. Das Kind beginnt dann zu Sprechen und ruft erstaunt: „Ich bin so alt wie der Böhmerwald, aber das habe ich noch nicht gesehen!“. Danach kommen die Elfen und nehmen das Kind wieder mit und lassen das Menschenkind dafür zurück.

Diese ganzen Motive kommen stereotyp in fast jedem Wechselbalgmärchen vor, darum sind diese Erzählungen eigentlich im Grunde sehr langweilig. Kennst du eine Geschichte, kennst du alle. Es gibt allerdings sogar ein paar „Augenzeugenberichte“ über Wechselbälger, aber da ist schwer zu erkennen, wo die Beschreibung von behinderten Kindern oder Erwachsenen (die meisten Wechselbälger werden nicht alt) aufhören und die Phantasie über übernatürliche Geschehnisse anfängt. Selbst Martin Luther behauptete, ein Wechselbalg mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Für mich waren diese Geschichten immer unlogisch. Warum sollte ein Elfenwesen sein eigenes Kind unter die Obhut von Menschen stellen und dafür das Menschenkind zu sich nehmen? Naturgeister sind zum Beispiel einfach nicht darauf angewiesen, ihre Blutlinie aufzufrischen oder Menschenkinder holen, weil sie angeblich selber nicht sehr fruchtbar seien, wie es öfter behauptet wird (es gibt als Gegenbeispiele Märchen, in denen eine menschliche Hebamme ins Feenreich geholt wird, um bei der Entbindung einer schwangeren Elfe zu helfen). Und als Boshaftigkeit ist es auch nicht lohnend – viel zu viel Aufwand, da ist ein gezielt gesetzter Fluch oder Pfeil lustiger. Also woher kommen diese gruseligen Märchen? Und der Dritte Grund ist, dass Naturgeister eben Geistwesen sind und auf einer unsichtbaren Ebene existieren und demzufolge von den Menschen in dieser Hinsicht unabhängig sind. Die Wechselbälger werden aber in allen Märchen als materiell existiernde Wesen beschrieben.

Es ist nachweisbar, dass dieser „Aberglaube“ im Mittelalter zu verorten ist. Der Begriff „Wechselbalg“ taucht am Anfang des 11. Jahrhunderts auf. Es gibt wohl ein paar vorchristliche Erzählungen von solchen Kindern, die wurden aber durch schriftliche Sammlungen aus dem 18. Und 19. Jahrhundert überliefert und sind deswegen so verzerrt in ihrer Erzählung, dass sie kaum brauchbar sind. Hier ein Zitat aus der Wikipedia: „Nach dem bayerischen Historiker Sigmund von Riezler (Geschichte der Hexenprozesse in Bayern, 1896) besteht kein direkter Zusammenhang zwischen den heidnischen Geistervorstellungen und dem Hexenglauben der christlichen Zeit. Die Vorstellung von teuflischen Wechselbälgen wurde ab dem 11. Jahrhundert von der Kirchenkanzel herab dem Volk nahegebracht und unterscheidet sich damit grundsätzlich vom volkstümlichen Glauben an Elfen und ähnliche Geistwesen aus früherer Zeit. Dennoch definierten Lexika des 18. und 19. Jahrhunderts den Begriff „Wechselbalg“ entgegen seiner historischen Entstehungsgeschichte als „germanischen Volksaberglauben“.“ Wahrscheinlicher für mich ist, dass hier eine kirchliche Kampagne gegen heidnische Vorstellungen stattfand…

Behinderte und missgebildete Kinder wurden aber oft als Wechselbälger angesehen. Man hatte damals noch keine rationale Erklärung für solche Kinder und beschuldigte „übernatürliche“ Kräfte, das gesunde Kind durch ein krankes Kind ausgetauscht zu haben. Bezeichnenderweise war der Höhepunkt der Misshandlung oder Tötung solcher behinderten Kinder im 15. bis zum 17. Jahrhundert, als die Hexenverfolgung so richtig wütete. Die heutige Naturwissenschaft gab es ja damals noch nicht, also konnten solcher Kinder nur „Geisterkinder“ oder in späterer Interpretation „Teufelsbrut“ sein. Deswegen vermute ich, dass hier eine „Kampagne“ der Kirche dahintersteht, welche behinderte und verkrüppelte Kinder schlicht und ergreifend als Teufelsbrut ansah und deswegen versuchte, diese Kinder möglichst böse zu porträtieren. Und wie kann man das besser als mit „gefakten“ Märchen, die man im Umlauf bringt. Vermutlich fanden bei der Christianisierung unserer Ahnen sehr ähnliche Unappetitlichkeiten statt wie vor 500 Jahren in der Neuen Welt (und bis heute weiterdauern, Stichwort Missionsschulen in Kanada).

Aber es gibt einige Spuren, die darauf hindeuten, dass das Phänomen "Wechselbalg" auch in vorchristlichen Überlieferungen vorkam, nur wahrscheinlich unter einem anderen Namen. Wie könnte das ausgesehen haben? Hier lohnt es sich, andere Kulturen anzuschauen. Das Phänomen „Wechselbalg“ gibt es nämlich auch außerhalb von Europa, allerdings geht es hier oft nicht darum, dass Kinder physisch ausgetauscht werden, sondern dass Seelen von Geistern, zum Beispiel von Feen, als Menschen inkarnieren konnten (und können...). Im islamischen Volksglauben gibt es männliche und weibliche Geister, die mit menschlichen Partnern Nachkommen zeugen können. Dann wird ein Geisterkind, das auf Arabisch „al-mubaddal“ genannt wird, geboren. Als „mabdul“ wird ein missgestaltetes Kind genannt, also eine ähnliche Vorstellung wie im Christentum (wen wunderts...). Aber zum Beispiel der chinesische Kaiser wurde früher als die Inkarnation eines Drachen angesehen (und er konnte auch in Ritualen seine Artgenossen rufen).

Bei der Durchsicht solcher außereuropäischer Märchen fiel mir auf, dass diese "wechselbälger" (oder eben "Geisterkinder") meistens (aber nicht immer) wesentlich freundlicher beschrieben und teilweise sogar verehrt wurden wie zum Beispiel der erwähnte chinesische Kaiser, während hier in Europa das arme Kind gepeinigt und als Teufelsbrut gebrandmarkt wurde. Ich fragte mich, ob das früher mal anders war. Ein paar sehr dürftige, aber interessante Hinweise findet man aber gerade in den Feenmärchen, denn es gibt auch ganz wenige, in denen Wechselbälger nicht als Scheusale porträtiert werden.

Einen Hinweis fand ich in einem kleinen Buch von Erika Dühnfurt namens „Die Elfenkönigsweise“. Das ist eine kleine Sammlung von Elfengeschichten nach Motiven aus Irland, Schottland und Schweden. In diesem Büchlein fand ich eine „Wechselbalggeschichte“, die so überhaupt nicht in den üblichen Rahmen passen wollte. Sie heißt „Der Elfenknabe und das Menschenkind“, die Motive dieser Geschichte entstammen aus einer Grimmschen Sammlung, die 1826 als „Irische Elfenmärchen“ bei Fleischer in Leipzig veröffentlicht wurde (das englische Original von Crofton Croker „Fairy Legends and Traditions oft the South of Ireland“ kam 1825 raus). Zwar hat die Autorin die eher stichwortartigen Notizen der Grimmbrüder selber zu einem Märchen ausgeschmückt, von daher ist eben die Beweislage dünn (zudem die Grimmbrüder auch selber dafür bekannt sind, Märchen gerne "umzugestalten"...), aber dennoch hat mich diese Geschichte beeindruckt, weil sie so ganz anders ist. Sie erzählt über einen „Elfenknaben“, der in einer Stadt in Schottland lebte. Keiner wusste, woher er stammte und warum er nicht bei seinem Volk lebte. In der Geschichte wird er durchwegs der Menschenwelt physisch zugehörig beschrieben, also ein typisches Merkmal der Wechselbalgmärchen. Auffallend ist aber, dass im gesamten Märchen das Wort "Wechselbalg" überhaupt nich vorkommt. Interessant ist, dass „manche Menschen glaubten, dass die Mutter eine Menschenfrau war“. Der Vater, der wohl ein Elf war, habe das Kind dann zu einer alten Frau in der Stadt in Obhut gegeben. Das weist darauf hin, dass der Glaube, dass Elfen als Menschen inkarnieren oder erscheinen konnten, früher wohl nicht ungewöhnlich war. Das Kind schien nicht zu altern und war auch sonst recht beeindruckend, denn es war hellsichtig, wusste bestens in Astrologie Bescheid und konnte so den Menschen helfen. Der Junge konnte praktisch jede gestellte Frage „aus dem effeff“ beantworten. Dann kommt im Märchen noch ein sehr interessantes Detail: Der Knabe erzählt: „Die Trommel schlage ich so gut als irgendeiner in Schottland. Jede Nacht vom Donnerstag auf dem Freitag (in der schottischen Feentradition wurden bestimmte Wochentage als "Feentage" angesehen) schlage ich sie für ein gewisses Volk, das im Norden der Stadt in dem Berge dort zusammenkommt.“ Natürlich schnüffelten die Menschen ihm nach, was zur Folge hatte, dass er für immer ins Feenreich zurückging (was übrigens auch ein weit verbreitetes Motiv in Feenmärchen ist – der Mensch versemmelt etwas, und die Fee oder Elfe verschwindet für immer).

Der Gang des Kindes zum Elfenreich wird übrigens durchaus „geisterhaft“ beschrieben, denn der Junge sagt, dass die Tore zum Elfenreich von den Menschen nicht gesehen werden können (und sie sehen sie tatsächlich auch niemals). Es gab also offensichtlich durchaus zumindest auf den britischen Inseln die Vorstellung, dass Elfen ganz physisch unter den Menschen wandeln und leben konnten. Spannend ist auch der Hinweis auf das Trommeln, mit viel Phantasie könnte man das als Hinweis auf schamanische Praktiken interpretieren. Auch die Aussage, dass der Elfenjunge den Menschen mit Rat und Hilfe zur Seite stand, kann auf schamanische Klientenarbeit hinweisen. Aus eigener Beobachtung passiert es öfter, dass „Otherkins“ sehr gute Schamanen oder Berater sind und diesen Weg einschlagen.

Zusammenfassend kann man sagen, dass das Wechselbalgthema zwei Ebenen hat. Die eine ist die des Aberglaubens. Man hat die Naturgeister (später den Teufel und Hexen) für verkrüppelte und behinderte Kinder verantwortlich gemacht, und die Vorstellung, dass die Kinder vertauscht wurden, kann man als psychologische Bewältigungsstrategie ansehen – „irgendjemand muss ja daran schuld sein, und man kann das eigene Kind wieder zurückkriegen!“. Die zweite Ebene schimmert „geisterhaft“ durch und weist möglicherweise auf eine heidnische Vorstellung, dass „mythische Wesen“ als Menschen inkarnieren können. Diese Vorstellung wird noch von einigen weiteren Märchen, die ich unter den entsprechenden Punkten anführe, gestützt: